Dienstag, 17. Mai 2011

mariamagdalena & Gäste: BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET- Eine polnische Hochzeitsfeier

Das Theater ist ein Fest
Polnische Traditionen gegen Theaterbräuche

...ich schreibe ja nicht oft über einen Abend, an den ich mich kaum erinnern kann. Ich weiss, dass es schön war! Mein Kopf fühlt sich an, wie wenn ich ordentlich gefeiert habe, meine Strümpfe sind zerrissen und das sind sie nur, nach überaus rauschenden Partys.... Doch nach ein paar Klängen melancholischer Musik mit polnischen Texten ( http://www.youtube.com/watch?v=I9r2s8C9T1Y ) kommen nach und nach die verlorenen Bilder und Erlebnisse von Gestern zurück:

Stellen Sie sich vor, Sie könnten ins Theater gehen, um wieder einmal auf einer Hochzeit zu tanzen: mariamagdalena hat gestern Abend genau das möglich gemacht und die Theaterbesucher zu ihrer Hochzeit eingeladen:
Der Theatersaal ist der Festsaal mit langen Festbänken, wo die Gäste platznehmen dürfen. Prominent in der Mitte der Tafel am oberen Ende des Saals sitzt bereits das Hochzeitspärchen. Der erste Wodka-Shot und die Essiggurken sind serviert. "Wir haben es geschafft", begrüsst der Brautführer die erwartungsvolle Runde, "der spirituelle, christliche Teil des Tages liegt hinter uns, jetzt sind wir hier zusammengekommen, um das Wässerchen zu feiern". Die Gäste werden aufgefordert, sich zu erheben und nach dem traditionellen Lied gemeinsam den Wodka zu kippen. Darauf folgen weitere höchsttraditionelle Hochzeitsbräuche, wie die Schnief-Rede des Brautvaters, der seine künstlichen Schniefer und Lacher wohl auf dem Spickzettel notiert hat. Rund um den mit romantischen Motiven reich gespickten Eröffnungstanz des Brautpaars herum bilden die Zuschauer den traditionellen Doppelkreis und wärmen sich damit für ein Theaterabend auf, an dem sie mehr Akteure sind als Zuschauer.
Und schon geht's weiter mit Disco Polo! Die Musik dazu legt "Marek unser wunderbares DJ" auf, den wir alle noch aus der Dorfdisco kennen. Die meisten Zuschauer sind begeistert dabei, sie wissen um was es geht im Theater: Eine Rolle annehmen, die die Situation gerade abverlangt. So tanzen und klatschen sie mit, als wären sie schon immer polnisch gewesen. Der Wodka und die Anweisungen zum unbefangenen Tanzen geben der nach wenigen Minuten hergestellten gehobenen Stimmung den Rest zur Ausgelassenheit. Das Publikum, das eben noch als Zuschauer vor dem Theatersaal stand, scheint seine gebräuchliche Theaterfunktion in Kürze abgelegt zu haben. Ohne Zögern meldet es sich als Freiwillige für die Gesellschaftsspiele, sucht mitfühlend den verlorenen Ehering, hört geduldig zu, als die Braut unterm Tisch liegend etliche Briefe vorliest von Leuten die nicht kommen konnten und zeigen sich, als der Bräutigam vor seinem Versprechen an die Braut endlos seine Vortrags-Karten ordnet, als verständnisvolle Angehörige.
Wer Glück hat, ergattert einen Tanz mit der Braut oder bekommt für das überreichte Geschenk einen Kuss vom Bräutigam. mariamagdalena und ihre Mitveranstalter der Hochzeit beschenken die Zuschauer und zum grössten Teil eigentlichen Nicht-Polen mit einem grandiosen Fest, zu dem sie sonst unter Umständen niemals eingeladen worden wären. Im Gegenzug bereichern die Gäste die Inszenierung mit ihrer Begeisterung am mitspielen. Ein so ausgelassenes und verschwitztes Publikum ist selten im Theater und wurde von vielen kaum zuvor erlebt. Weil die Zuschauer, durch die geschickte Inszenierung ganz zu Hochzeitsgästen mutieren, verliert das Theater seine letzten erkennbaren Strukturen und wird für die Dauer der Inszenierung ganz zur Hochzeitsfeier. Auf mariamagdalenas Hochzeit kann man nicht mehr einer inszenierte Realität zuschauen, sondern sich selbst in einer inszenierten Realität erleben.


Christina


Aufführung vom 14.05.2011 im Theaterhaus Gessnerallee Zürich

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